Erfahrungsbericht

Noah (Schweiz)

«Etwas ist nicht in Ordnung.», mit diesem Satz wurden wir bei unserem zweiten Kind bereits in der Schwangerschaft konfrontiert. Beim Organscreening in der 23. Woche gab es einen «auffälligen Befund». Etwas, was uns völlig aus der Bahn warf. Gleichzeitig war auch bald klar, dass dies keine sofortigen Konsequenzen haben würde. Eine Abtreibung kam nicht in Frage und wir wollten auch keine weiterführende Diagnostik, vor allem deshalb, weil uns auch diese keine 100%ige Sicherheit gegeben hätte. Bei den Nachfolgeuntersuchungen relativierte sich der «auffällige Befund» wieder, die Zysten im Kopf waren weg, die Nase war gewachsen und auch die Auffälligkeit beim Herzen verflüchtigte sich, zumindest soweit man das im Ultraschall feststellen konnte. Die Unbeschwertheit, die wir bei der Schwangerschaft unserer ersten Tochter bis zum Schluss hatten, war trotzdem weg.

Gebären konnte ich wie geplant im Geburtshaus, es war eine schöne und unkomplizierte Geburt und um etwa 10 Uhr an einem Sonntagmorgen kam Noah auf die Welt. Ich erschrak, wie blau angelaufen er war, die Angst war sofort präsent. Seine Farbe änderte sich zwar bald, er mochte auch ein paar Schlucke trinken und alles sah so weit gut aus. Nur seine Sauerstoffsättigung war sehr knapp über dem Grenzwert, manchmal sogar darunter. Dies änderte sich bis zum Abend nicht und so entschied die Wochenbetthebamme in Absprache mit der Neonatologie des UKBB (Universitätsspital beider Basel), dass er verlegt werden musste. Der Moment, in dem das Sanitätsteam mit diesem mobilen Brutkasten kam, war furchtbar. Mein Mann konnte mitgehen, ich blieb zurück. Es war tieftraurig und gleichzeitig völlig absurd.

Bereits in der ersten Nacht wurde Noahs Herz zum ersten Mal angeschaut und eine Anomalie festgestellt, dazu gab es unzählige weitere Tests. Seine ersten drei Lebenswochen verbrachte er auf der Intensivstation des UKBB, wo er liebevoll und kompetent betreut wurde. Die vielen Untersuchungen waren nicht immer einfach auszuhalten. Die Ärzte schlossen diverse Erkrankungen aus, doch was er tatsächlich hatte, blieb unklar. Die Sauerstoffsättigung war bald kein Problem mehr, dafür kristallisierte sich eine starke hypertrophe Kardiomyopathie heraus (eine Verdickung der Herzkammerwand). Für die Ärzte war es sehr wichtig, die Ursache dafür herauszufinden, für mich spielte es irgendwann nur noch eine untergeordnete Rolle, da man uns klar machte, dass eine Therapie sowieso äusserst schwierig wäre. Als erste Massnahme erhielt er einen Betablocker, der aber nur symptomatisch wirkte.

Dazu kam eine Trinkschwäche, die sich immer stärker zeigte. Ich konnte ihn zwar stillen, aber er kam nur selten auf die erforderliche Trinkmenge. Deshalb erhielt er bald eine Nasensonde, um die Ernährung etwas entspannter zu machen. Die Milchpumpe war omnipräsent, durchaus hilfreich beim Milcheinschuss, aber durch den Stress und die Ungewissheit blieb die abgepumpte Menge klein, Noah musste von Anfang an zugefüttert werden mit Säuglingsmilch.

Der Spagat zwischen unserer Tochter zu Hause und Noah im Spital war schwierig und immer grösser wurde der Wunsch, ihn nach Hause nehmen zu können. Gerade auch, weil es unklar war, wie sich sein Herz weiterentwickeln würde, wie lange er überhaupt zu leben hätte. Es war uns wichtig, ein Familienleben, einen Alltag zu haben. So konnten wir dann nach drei Wochen heimgehen, ohne klare Diagnose und unter der Voraussetzung, zunächst sicher einmal in der Woche in die Kardio-Kontrolle zu kommen.

Die folgenden Wochen waren hauptsächlich geprägt von Noahs Trinkschwäche. Seine Ernährung nahm zu Beginn fast 10 Stunden im Tag ein, alle zwei Stunden erhielt er eine Mahlzeit, er wurde gestillt, bekam das Fläschchen und dann musste er meistens noch einen Teil durch die Sonde erhalten. Die Trinkmenge wurde genau aufgeschrieben, jedes Übergeben brachte wieder alles durcheinander, v.a. wenn auch noch das Medikament betroffen war. Das Spezielle an der Situation war die diffuse Doppelbelastung: Zum einen war da der Herzfehler, der lebensbedrohlich war, aber im Alltag kaum auffiel. Zum anderen diese Trinkschwäche, welche kein existenzielles Problem war, den Alltag aber sehr schwierig machte.

Noch im Spital hatte man Noah Blut abgenommen für eine genetische Untersuchung. Und diese brachte nun, vier Wochen nach seiner Geburt, die Diagnose: Noonan-Syndrom. Wir wissen heute, dass wir sehr viel Glück hatten, diese Diagnose so früh zu erhalten. Und es war für mich eine grosse Erleichterung, eine Erklärung insbesondere für die Trinkschwäche zu haben. Denn in diesen ersten Wochen habe ich mich häufig auch gefragt, ob wir da etwas erzwingen, ob Noah überhaupt leben möchte. Erleichtert waren wir auch, dass es eine spontane Genmutation war und somit weder wir noch unsere Tochter davon betroffen waren.

Es folgten intensive, schwierige, aber auch schöne Monate. Noah kam im Februar 2020 auf die Welt, die Geburt und die ganze Spitalzeit war noch nicht von Corona beeinflusst, doch nun kam die Pandemie mit voller Wucht. Die Trauer über den Verlust aller Normalität war gross. Keine unproblematische Stillerfahrung, kein stolzes Vorzeigen eines süssen Babys, keine Besuche von Familie und Freunde, keine stundenlangen Spaziergänge, keine Kita für die Grosse, kein Rückbildungsyoga, keine Hebammenbesuche im Wochenbett. Dafür eine Mauer zwischen mir und meinem Sohn, gebildet wohl aus der Angst, ihn jederzeit verlieren zu können. Panikattacken jeweils am Nachmittag. Jeden Tag der Versuch, einmal nach draussen zu kommen mit den Kindern, immer begleitet von Stress, da der Kleine ja wieder Nahrung brauchte nach mindestens zwei Stunden. Der Schmerz, ausgeschlossen zu sein aus diesem «Club der normalen Mütter». Irgendwie nicht dazu zu gehören.

Es wurde allmählich besser. Die Grosseltern unterhielten die Grosse via Skype. Wir trauten uns zu, Noah auch draussen zu füttern, die Spaziergänge wurden länger. Wir mussten nur noch alle zwei, später alle vier Wochen zur Kardio-Kontrolle. Noah begann zu lächeln, die Mauer bekam Risse. Der Austausch mit anderen Noonan-Betroffenen zeigte, dass wir nicht allein sind. 

Wir trafen Familie und Freunde wieder, draussen, mit viel Abstand. Die Corona-Zahlen sanken. Doch dann, im Frühsommer, kam der Schlag: Plötzlich verschlechterte sich das Herz massiv, wir mussten ins Inselspital Bern für eine Herzkatheteruntersuchung, es wurde klar, dass eine Operation die einzige Lösung war. Noah war viereinhalb Monate alt.

Die Ärzte waren deutlich: Wenn wir nichts unternehmen, würde Noah sterben. Und zwar nicht friedlich im Schlaf, sondern dann, wenn er sich aufregt, wenn er am Weinen oder Schreien ist. Somit war die Entscheidung klar, es gab nichts hin- und her zu überlegen. Doch die Angst vor dieser riskanten Operation am offenen Herzen war riesig.

Die Operation verlief erfolgreich, die Genesung ging viel schneller als erwartet und bereits nach zehn Tagen durften wir das Inselspital wieder verlassen. Noah trank viel besser, begann Brei zu essen und wir konnten die Nasensonde schliesslich entfernen. Ich hörte auf zu stillen und abzupumpen, was eine enorme Erleichterung war, auch wenn ich bis heute manchmal mit Schuldgefühlen zu kämpfen habe, dass ich es nicht länger durchgezogen habe.

Wir konnten den Sommer in vollen Zügen geniessen. Doch bald schon zeigte sich, dass die Verengung des Herzens wieder zunahm. Da es nicht ein klassischer Herzfehler ist, der sich durch eine Operation komplett beheben lässt, sondern sich aufgrund der Genmutation sehr unberechenbar entwickeln kann, bestand diese Gefahr von Anfang an. Das Kardio-Team des UKBB machte den Vorschlag, experimentell ein Medikament einzusetzen, welches eigentlich bei Transplantationen gebraucht wird und sich als eine Art «Nebenwirkung» auch auf das Herz auswirken kann. Dazu gab es einen dokumentierten Fall aus München, der dem von Noah sehr ähnlich war.

Wir verbrachten also einige Tage im Spital, um das Medikament einzustellen. Die grösste Herausforderung war das Verabreichen des Medikamentes. Das Fläschchen wurde verstopft durch die zerstossene Tablette, mit der Spritze klappte es auch mehr schlecht als recht, schliesslich verabreichten wir es mit Jogurt, das funktionierte ziemlich gut. Allerdings gab es trotzdem Tage, an welchen sich Noah total verweigerte und die ganze Sache ein Kampf war.

Eine weitere Herausforderung war, dass das Medikament eine immunsuppressive Wirkung hatte. In Kombination mit Corona hiess das für uns, dass wir noch vorsichtiger sein mussten als vorher. Der Herbst und Winter 2020/21 mit den stark steigenden Corona-Zahlen waren schwierig, wir mussten uns bei der Arbeit stark isolieren und die sozialen Kontakte fanden ausschliesslich draussen statt.

Doch das Medikament begann zu wirken; zunächst stabilisierte sich das Herz und nach einem halben Jahr schien es sich sogar zu verbessern. Ob es am Medikament lag oder ganz allgemein am Wachstum, lässt sich nicht mit völliger Sicherheit sagen. Und es spielt auch keine Rolle. Nach fast einem Jahr konnten wir das Medikament wieder absetzen und bis jetzt gab es keinen Rückfall. Bleibt das Herz so, wie es jetzt ist, braucht es keine Operation mehr und wir können zuversichtlich in die Zukunft blicken, was natürlich unbeschreiblich schön ist.

Noah hatte von Anfang an eine grosse Lebensfreude. Der Kampf um jedes Gramm Gewichtszunahme ist beendet, er hat sogar knapp ein für sein Alter normales Gewicht. Auch in Bezug auf die Ernährung hat sich die Lage entspannt, nach kleineren Rückschlägen beim Brei-Verfüttern isst er nun ganz normal vom Tisch, meistens mit gutem Appetit. Seine Entwicklung ist etwas verzögert, aber immer noch im normalen Bereich. Er ist nun 19 Monate alt und beginnt langsam mit Treppenkrabbeln, sich Hochziehen und ersten Gehversuchen. Er plappert viel, ist ein sehr fröhlicher und manchmal auch frecher Lausbub. Corona ist laut unseren Kardiologen keine so grosse Gefahr mehr und deshalb darf er nun auch einen Tag pro Woche in die Kita, gemeinsam mit seiner Schwester.

«Etwas ist nicht in Ordnung.». Mittlerweile ist sehr vieles in Ordnung, doch eine gewisse Unsicherheit wird immer bestehen. Bleibt das Herz stabil? Inwiefern werden sich die «Anfangsschwierigkeiten», welche charakteristisch für das Noonan-Syndrom sind, noch äussern? Wird Noah normal in die Schule gehen können, eine Ausbildung machen? Wird er die für seine Mutation typischen Lentigenes (Leberflecken) bekommen? Die nächste grosse Frage wird wohl diejenige nach seinem Wachstum sein. Die spezifische Mutation, die er hat, kann Kleinwüchsigkeit (d.h. ca. 150 cm) zur Folge haben. Verglichen mit der Herzproblematik ist es ein «Luxusproblem», sich über etwas so Oberflächliches Gedanken zu machen. Und trotzdem sind viele Sorgen damit verbunden. Schliesslich gehört auch die Psyche zur Gesundheit; und wie es für Noah sein wird in der Pubertät und später, das beschäftigt mich. Wir haben eine engagierte Kinderärztin, die sich bereits jetzt informiert, ob Wachstumshormone vielleicht eine Lösung wären. Das wird keine einfache Entscheidung, wir müssen uns aber erst in etwa zwei Jahren damit auseinandersetzen.

Wir sind uns bewusst, dass wir viel Glück hatten. Wir wurden medizinisch immer enorm gut betreut, sowohl von unserem Kardio-Team im UKBB und den Ärzten im Inselspital, wie natürlich auch von allen Pflegenden und der Kinder-Spitex, welche ab und zu notfallmässig einen Einsatz hatte zur Wiedereinsetzung der Nasensonde. Wir haben ein tolles Umfeld, werden von Familie und Freunden mit so viel Liebe unterstützt, was vor allem auch für unsere Grosse sehr wertvoll ist. Wir sind als Paar an diesen Herausforderungen gewachsen, wissen, dass wir ganz vieles gemeinsam schaffen können. Bald werden wir zu fünft sein und wir freuen uns sehr darauf, Noah als grossen Bruder zu erleben.